Urvater aller modernen Crossover
Das Märchen aus 1001 Nacht
„Please call me Raj“. Mit dieser freundlichen Aufforderung war eine innige Geschäftsbeziehung zu Walter Treser begründet. Raj, gesprochen „Radsch“, stand für den Chefverkäufer des Audi, VW und Porsche Importeurs von Omans Hauptstadt Muscat. Raj ist Inder, wie die meisten, die in Oman wirklich etwas zu sagen haben. Nein, eigentlich zu sagen, im Sinne von: wer zahlt, schafft an, haben die reichen Omani, denen das sprudelnde Erdöl unermesslichen Wohlstand in die Taschen spült, aber auch gleichzeitig Hände und Beine etwas faul werden lässt. Oman ist flächenmäßig etwas größer als Italien, hat aber nur 1,5 Millionen einheimische Omani – und etwa 550.000 Gastarbeiter, meist aus Indien oder Pakistan, die für das Geschäftsleben und für die Bedienung der Einheimischen zuständig sind. Und Raj, komplett Mister Rajaram, ist einer von ihnen. Dafür aber ein ganz besonderer. Denn er hat den direkten Zugang zum Regierungspalast des Sultan Qaboos, dem allmächtigen Alleinherrscher des Oman. Nun will es ein glückliches Schicksal, dass Seine Majestät, Sultan Qaboos, Autoliebhaber ist und das Fliegen hasst. Einheimische berichten, dass er nicht nur mit dem Auto regelmäßig sein Land bereist und sich unter sein Volk mischt, sondern auch des Nachts noch zum reinen Vergnügen durch die Gegend fährt.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind
Dazu braucht er geeignete Untersätze. Im dünn besiedelten Wüstenstaat waren in den 80er Jahren asphaltierte Straßen noch rar, so dass Raj leichtes Spiel hatte, dem Sultan die Vorzüge des quattro – Antriebes schmackhaft zu machen. Stellen Sie sich vor, um wieviel herrschaftlicher es war, statt im hochbeinigen Range Rover oder Mercedes G, im offenen Treser quattro roadster beim Volk vorzufahren. Und die schillernden pink, lila oder giftgrünen Farben, in denen der Sultan vorzugsweise bestellte, strahlten vor dem Beige des Wüstensandes. Über 20 quattro roadster wurden speziell nach seinen persönlichen Wünschen bei Treser in Ingolstadt gefertigt und per Luftfracht nach Oman geliefert. Bis Raj bei einem seiner regelmäßigen Besuche in Deutschland beiläufig von einer weiteren Leidenschaft des Sultans erzählt: der Falkenjagd. Bei ihr fährt der Sultan, aufrecht im Fahrzeug stehend, den Falken auf der ledergeschützten Hand, um ihn im geeigneten Moment fliegen zu lassen und ihm auf möglichst direktem Wege mit dem Fahrzeug zu folgen. Nun gehört wenig Fantasie dazu, um sich vorzustellen, welche besonderen Qualitäten ein Auto dafür haben muss. In Oman erstreckt sich das Jagdrevier des Falken über felsiges Gestein, Gestrüpp und weite Sanddünen. Und zur Abkürzung sind schnelle Straßenstücke willkommen, die alle mit möglichst hoher Geschwindigkeit überwunden werden müssen.
Die neue Verlässlichkeit
Das war die Herausforderung für Walter Treser und sein Team. Hatte man nicht bei der Konzeption des quattro genau das im Sinn? Wollte man nicht das Wort von der Zuverlässigkeit eines Autos neu definieren? Statt nur zu erwarten, dass bei einem zuverlässigen Auto der Motor anspringt, definierte Treser den Begriff „Verlässlichkeit“ damit, dass einen das Auto auch überall dorthin bringt, wohin der Fahrer möchte. Und sei es quer durch die Wüste. Also nimmt man den neu auf den Markt gekommenen Audi 90 quattro, Typ 85, montiert die richtigen, überbreiten Michelin TRX Reifen der Größe 280/45 VR 415 und bringt ihn auf die nötige Bodenfreiheit von 20 cm. Dazu schützt man das Auto durch umlaufende Stahlrohre vor Ästen und Büschen und befestigt kräftige Front- und Unterbodenverkleidungen aus gestanztem Aluminium. Damit der Sultan auch mit seinem Falken aufrecht im Wagen stehen kann, wurde ein großes, über die ganze Dachlänge reichendes Rollverdeck eingebaut. Massive Rahmenversteifungen und entsprechende Kotflügel -, Front- und Heckverkleidungen taten ihr Übriges.
Bisher unerreichte Fahreigenschaften
Natürlich ist das alles schneller erzählt, als es damals dauerte. Aber das bewährte Team von Horst Agne und Walter Treser, zusammen mit der Mannschaft, die es gelernt hatte, komplette Fahrzeuge von Grund auf zu entwickeln, schaffte es auch dieses Mal wieder. Und die Fachwelt staunte. Was das Böhmfelder Loch für die Entwicklung des quattro-Chassis war, wurden die Uferböschungen des Donau Ufers bei Ingolstadt für den hunter. Sein tiefer Schwerpunkt in Verbindung mit der extrem breiten Spur und den verlängerten Spezialfederbeinen ergaben bis dahin nicht gekannte Fahreigenschaften in allen Geländeformationen. Egal ob Böschungswinkel von 80%, tiefe Wasserdurchfahrten, steinige Geröllstrecken oder flotte Autobahnjagden: der hunter ist überall in seinem Element.
Ausgestattet mit speziellen Tropenkühlern reicht die Motorisierung vom 2,3 Ltr. 5-Zylinder mit 136 PS über eine drehmomentstarke Treser Variante mit 160 PS, bis zum 5-Zylinder Turbo mit satten 250 PS. Mit Servolenkung, drei zuschaltbaren Differentialsperren und einem Getriebe, das für extreme Langsamfahrten im Gelände ausgelegt ist, ergibt sich je nach Fahrbahnbeschaffenheit eine Steigfähigkeit von 45 Grad.
Exklusive Einzelstücke in Handarbeit
Die ersten TreserAudi hunter werden 1984 auf Basis des Audi Typ 85 gebaut. Im Jahr 1986, als Audi den Typ 85 durch den Typ 89 ersetzt, stellt auch Treser den hunter um und entwickelt eine zweite Variante. Für viele war das neue, in seiner Formgestaltung weichere Modell das hübschere Fahrzeug. Für die Offroad-Puristen bleibt der erste hunter mit seinem kantigen, robusten Erscheinungsbild der Urvater aller heutigen Crossover. Die Fertigungszeit je Fahrzeug beträgt etwa fünf Wochen und es ist kein Wunder, dass der Preis für diese Handarbeit entsprechend hoch war. Dem Sultan von Oman und seinem Importeur Raj war‘s recht. Aber den deutschen Kunden war das Fahrzeug zu extrem und zu teuer. So wurden nur wenige Exemplare überhaupt in Deutschland verkauft. Eines davon ist ein Einzelstück auf Basis des Audi 80 quattro, Typ 89, mit 2 Ltr.-4-Zylinder mit 112 PS von dem freilich nur ein Exemplar existiert. Man hat versucht, der geringen Motorleistung mit schmaleren Reifen der Größe 240/45 VR 415 entgegen zu kommen. Gleich bei allen hunter sind selbstverständlich die Treser Turbo Felgen und das griffgünstige Treser Lenkrad. Aber der hohe Preis des hunter verlangte auch nach höherer Motorleistung. Interessanter ist da schon die Variante mit 250 PS Turbo Motor, Klimaanlage, Volllederausstattung und der Treser Sport-Schalttafel mit ihren acht klassischen Rundinstrumenten, die nicht nur den Preis des Fahrzeugs in den echten Luxusbereich befördert, sondern auch das besondere Fahrerlebnis vermittelt, im damals einzig wirklich existierenden „Autobahn-Feldweg-Wüsten-Luxusfahrzeug“ zu fahren, „das überlegene Off Road-Eigenschaften mit hohem Komfort und erstklassiger Straßentauglichkeit verbindet“, wie es in einem Originalprospekt der Firma Treser von 1985 hieß. Sultan Quaboos jedenfalls war begeistert von seinem hunter, erinnert sich Raj heute noch. „Er fuhr trotz seines enormen Fuhrparks zwei Jahre lang nichts anderes“.